Das Auffinden von Stärke erfolgt in emotionaler Offenheit und Verletzlichkeit
„Wie menschlich ist es doch, dass wir uns schämen, Liebe zu zeigen, und Angst davor haben, zu lieben, aber offen und stolz mit unserem Hass prahlen.“
In diesem Zitat zeigt sich einen Widerspruch in uns Menschen auf – warum fällt es uns so schwer, Liebe zu zeigen, während wir gleichzeitig kein Problem damit haben, unseren Hass laut herauszuschreien?
Eine schmerzhafte Wahrheit
Liebe ist etwas Zartes, Verletzliches. Wir zögern, sie offen zu zeigen, schämen uns vielleicht sogar dafür. Doch beim Hass, bei der Ablehnung, bei der Wut – da ist es anders. Plötzlich sind wir mutig. Wir schreien sie in die Welt hinaus. Wir posten sie in sozialen Medien, wir zeigen sie auf der Straße, wir tragen sie sogar im Gesicht, in unseren Blicken. Und oft tun wir das, als wäre es etwas, worauf wir stolz sein könnten.
Warum ist das so? Warum fällt es vielen leichter, zu hassen als zu lieben? Wenn wir die Liebe zeigen, machen wir uns angreifbar. Wir haben Angst, abgewiesen zu werden, ausgelacht oder als schwach abgestempelt zu werden. Deshalb halten viele ihre Zuneigung zurück, verstecken sie hinter Witzen oder Schweigen. Gleichzeitig gibt es fast eine Art Stolz darin, seinen Ärger oder Hass offen zu zeigen. Hass gibt uns das Gefühl von Stärke, von Klarheit – als ob wir damit beweisen, dass wir uns nicht alles gefallen lassen. Wut vermittelt oft das Bild von Macht, von Kontrolle. Hass zu zeigen ist wie eine Rüstung: Man wirkt unangreifbar, selbst wenn man innerlich eigentlich zerbrechlich ist.
Doch das ist ein Trugschluss. Hass ist oft nur eine Maske für Unsicherheit oder Angst. Wer laut schimpft, tut das meist, weil er sich nicht traut, seine wahren Gefühle zuzulassen. Liebe dagegen erfordert Mut. Sie bedeutet, sich zu öffnen, ohne Garantie, dass man etwas zurückbekommt.
Belohnung durch die Gesellschaft
Man soll sich umschauen: In vielen Bereichen wird Wut als Zeichen von Stärke gefeiert. Wer sagt: „Ich finde diesen Menschen ekelhaft“, bekommt Aufmerksamkeit. Wer dagegen sagt: „Ich liebe diesen Menschen“, wird belächelt oder sogar angegriffen. Liebe wird heute oft als kitschig abgestempelt. Wer zu viel Gefühl zeigt, gilt als schwach. Wer aber zynisch, sarkastisch, wütend oder abweisend ist, wirkt „cool“ oder „realistisch“. Dieses Klima, in dem Negatives mehr Beachtung findet als Positives, formt unser Verhalten. Politiker brüllen sich an, Menschen beschimpfen sich im Internet, und selbst in Freundeskreisen wird oft mehr über das gehetzt, was man nicht mag, als über das, was man liebt. Gleichzeitig wird Zärtlichkeit oder Zuneigung schnell als „peinlich“ abgetan.
Warum ist das so? Vielleicht, weil Hass einfacher ist. Er braucht keine Empathie, kein Verständnis. Liebe dagegen verlangt Geduld, Mitgefühl und die Bereitschaft, sich auf andere einzulassen. Das ist anstrengender – aber auch viel lohnender.
Was passiert, wenn wir diesen Kreislauf durchbrechen?
Wir können uns vorstellen, wir würden Liebe genauso frei zeigen wie unseren Ärger. Wenn wir ohne Scham sagen könnten: „Du bist mir wichtig“, ohne Angst, als sentimental abgestempelt zu werden. Wenn wir Zuneigung nicht nur hinter verschlossenen Türen leben, sondern sie genauso selbstverständlich ausdrücken wie unsere Meinung.
Das würde unsere Beziehungen verändern – zu Partnern, Freunden, sogar zu Fremden. Plötzlich wäre weniger Raum für Missverständnisse, für versteckte Vorwürfe oder unausgesprochene Enttäuschungen. Hass würde nicht verschwinden, aber er hätte weniger Macht, weil er nicht mehr als „stark“ oder „cool“ gilt.
Wie sähe eine Welt aus, wenn …?
In der Familie: Statt nur stillschweigend davon auszugehen, dass man sich liebt, würden Eltern ihren Kindern öfter sagen, wie stolz sie auf sie sind. Geschwister würden sich nicht nur necken, sondern auch mal sagen: „Es tut gut, dich zu haben.“
In Freundschaften: Wir würden nicht nur dann ehrlich sein, wenn uns etwas stört, sondern auch, wenn wir Dankbarkeit spüren. „Ich schätze dich“ wäre kein seltener Satz, sondern etwas, das man so oft sagt wie „Lass uns was unternehmen“.
In der Liebe: Beziehungen wären ehrlicher. Statt zu hoffen, der andere „spürt schon“, was man fühlt, würde man es aussprechen. Kein „Ich liebe dich“ würde als zu viel gelten, kein Kompliment als unangenehm.
Im Alltag: Selbst Fremden gegenüber könnten wir freundlicher sein – nicht aus Höflichkeit, sondern weil wir uns nicht schämen, Wärme zu zeigen. Ein ehrliches „Schönen Tag noch“ statt eines genervten Blickes.
Das fühlt sich ungewohnt an, weil wir es nicht gewohnt sind. Wir haben gelernt, dass Gefühle etwas sind, das man kontrollieren muss – besonders die guten. Aber was, wenn wir uns einfach daran gewöhnen würden, sie auszudrücken? Anfangs mag es sich komisch anfühlen, aber mit der Zeit würde es normal werden. Und dann merken wir vielleicht: Es ist nicht peinlich, zu lieben. Peinlich ist nur, es zu verstecken.
Hass braucht Isolation, um zu wachsen. Er gedeiht dort, wo Menschen sich nicht trauen, ehrlich zu sein. Aber wenn wir anfangen, Liebe offener zu zeigen, wird es schwerer, sich in Wut zu verschließen. Nicht, weil wir plötzlich alle perfekt wären – sondern weil wir merken, dass wir gar nicht so anders sind. Dass wir alle das Gleiche wollen: gesehen, verstanden und vielleicht sogar geliebt zu werden.
Und das ist kein Traum. Es fängt damit an, dass einer anfängt. Vielleicht sind wir es.
Liebe braucht mehr Mut – und der lohnt sich
Dieses Zitat erinnert uns daran, dass wir oft den falschen Gefühlen den Vortritt lassen. Wir verstecken, was uns wirklich bewegt, und geben dem Platz, was uns eigentlich schadet. Doch wenn wir anfangen, Liebe nicht als Schwäche, sondern als Stärke zu sehen, können wir etwas verändern – in uns selbst und in der Art, wie wir miteinander umgehen.
Es ist nicht leicht, sich zu öffnen. Aber es ist menschlicher, als wir denken. Wer dieses Zitat liest, wird nicht sofort ein anderer Mensch. Aber vielleicht hält er inne. Vielleicht sagt er einmal mehr „Ich liebe dich“ – und einmal weniger „Ich hasse das“. Und das wäre schon ein Anfang.